Sokon Matsumura
Matsumura, Sôkon: okinawanischer Karate-Meister (auch BUSEITATSU, UNYU, BUSHI MATSUMURA oder BUCHO genannt), hauptsächlicher okinawanischer Vertreter des chinesischen Shaolin-Systems (s. Shôrin), dem Ausgangspunkt zur Gründung mehrerer späteren Karate-Stile.
Matsumuras Anfänge
Über Matsumuras Geburtsjahr besteht bei den Historikern Uneinigkeit. Es kommen die Jahreszahlen 1792, 1805 und 1809 in Frage. Sein Geburtsort war Yamagawa/Shuri. Bereits als 10jähriger Junge wurde er von seinem Vater, MATSUMURA SOFUKU, zu dem damals 78 Jahre alten SAKUGAWA gebracht, um im Karate unterrichtet zu werden. Er entwickelte sich schnell
zu einem hervorragenden Kampfkunstexperten. Im Winter 1816 kam er als Chikudon (gehobener Beamter) in den Staatsdienst und wurde später der Leiter der persönlichen Leibgarde des 17., 18. und 19. Ryûkyû-Königs. 1818 heiratete er YONAMINE CHIRU, eine äußerst starke Frau, die auf Okinawa eine bekannte Kampfkunstexpertin war. Von ihr stammt die Shuri-te Form der Naha-Kata Seisan (s. dort und Hangetsu).
Matumuras Wirken
In den Jahren seiner Reife zeichnete sich Matsumura immer wieder durch tapfere und heldenhafte Taten aus. Er wurde nicht nur auf Okinawa, sondern auch in ganz Japan und China zur Legende. Schließlich wurde er Hauptinstruktor für das Kampfkunsttraining in der königlichen Sho-Familie und erhielt vom okinawanischen König den Titel „Bushi“ (Krieger), ein Äquivalent zum japanischen Samurai. Ungefähr 1830 ging er nach China und studierte dort mehrere Jahre lang in Fuzhou das Shaolin Quan-fa und die Waffenkünste. In China nannte man ihn BU SEI-TATSU (WU CHENG-DA). Von dort brachte er eine Kopie des Bubishi mit, ein Jahrhunderte hindurch geheim gehaltenes Dokument über die chinesischen Kampfkünste.
Man weiß auch, dass er bei mehreren Gelegenheiten als Gesandter des okinawanischen Königs nach Fuzhou (China) reiste. 1860 soll er von einer dieser Reisen den chinesischen Meister IWAH nach Okinawa gebracht haben, mit dem er später zusammen unterrichtete. Iwah war ein Meister des Shaolin-Kranichstils (s. Bai-he-quan) und überlieferte über Matsumura
eine eigene Form des Hakutsuru-ken (Stil des Weißen Kranichs, s. dort), die über SÔKEN HÔHAN ins heutige Matsumura-Seito gelangte. Bushi Matsumura gehört zu den Schlüsselfiguren des okinawanischen Karate. Zum ersten Mal gebrauchte er für seinen Stil die Bezeichnung Shôrin-ryû Gokoku-an Karate (Karate aus dem Shaolin-Kloster, zur Verteidigung der Heimat, s. dort), woraus die Bezeichnung Shôrin-ryû für die nachfolgenden Systeme übernommen wurde. Seine Schule (er unterrichtete in Sakiyama/Shuri unter freiem Himmel) war eine der bedeutendsten, die es zu jener Zeit auf Okinawa gab. Fast alle Meister der kommenden Generation waren mit ihr verbunden. Sein Stil orientierte sich stark
an den alten Shaolin-Praktiken, die sehr körperbetont waren. Er überlieferte (oder gründete) die Matsumura-Passai, welche man als Ursprung aller Bassai-Formen des Shuri-te betrachtet. Andere Kata der Matsumura-Schule waren Naihanchi, Chanan, Chinto, Seisan, Kûshankû und Gojûshiho. Außerdem übte er die Hakutsuru (Kata des weißen Kranichs) aus China, die in Okinawa lange Zeit als geheim galt. Daneben war er ein Experte des auf Kyûshu praktizierten Jigen-ryû, ein Schwertstil des Shimazu-Clans von Satsuma, den er von Ishiun Yashichiro lernte.
Die Kata der Matumura Schule
- Naihanchi
- Chanan
- Patsai
- Gojûshiho
- Seisan
- Kûshankû
- Chintô
- Hakutsuru
Matumuras schriftliche Anleitung
In einer Schrift behandelt Matsumura die Techniken des Sai auf der Grundlage seiner Kata Matsumura no Sai. Kurz vor seinem Tod schrieb er einen Brief an seinen Schüler Kuwae Ryôsei, in dem er seine Sichtweise über die Kampfkünste darlegte. In dieser Abhandlung (Matsumura Bucho Ikko) erläutert er die Verbindungen der Kampfkünste mit den Sozialwissenschaften und der konfuzianischen Ethik: An Kuwae Ryosei Ich schreibe Dir dies, weil ich glaube, dass Du Dir der Bedeutung des Bujutsu bewußt sein solltest. Bun (Weg des Lernens) und Bu (Weg des Kämpfens) haben denselben Zweck.
Es gibt drei Hauptgebiete auf dem Weg des Lernens:
Shinsho (Lesen, Schreiben und Rechnen): dazu gehören die Kalligraphie, das Wissen um die Sprache, der flüssige Gebrauch des Wortes und das Errechnen des Preises für den Reis, den Du bestellt hast.
Kunko (Lehren): dieser Punkt bezieht sich auf das Unterrichten der Menschen im Sinne ihrer Pflichten, wie sie von den chinesischen Klassikern vorgeschrieben werden. Strebe immer nach tiefem Wissen und lehre durch Dein Beispiel.
Konfuzianismus: das Studium des Konfuzianismus bringt Aufrichtigkeit, Reinheit des Herzens und einen Sinn für Angemessenheit in allen Dingen. Die konfuzianische Philosophie ist die Philosophie der Wahrheit.
Die drei Wege des Kämpfens sind:
Gakushi (Bujutsu der Hofinstruktoren): die Stile der Hofinstruktoren werden auf sehr ungewöhnliche Weise geübt; die Bewegungen sind niemals dieselben, formlos und leicht. Sie sehen aus wie der Tanz einer Frau.
Meimoku (Bujutsu der Benennungen): die Vertreter dieser Stile üben nicht regelmäßig, sie kommen und gehen hierhin und dorthin, suchen Wege des Gewinnens, streiten sich mit Leuten und belästigen sie vielleicht auch. Am schlimmsten von allem ist, dass sie anderen Menschen Schaden zufügen und ihre Eltern und Familien sich für sie schämen müssen.
Budo (Bujutsu der wahren Kampfkünste): dies ist reine Konzentration, die viele einzigartige Ideen hervorbringt. Du musst mit Deinem Geist gut umgehen und darauf warten, dass Dein Gegner geistig zusammenbricht. Gewinne den Kampf durch die Ruhe Deines Geistes, der die Konzentration des Gegners zerstört. Reifes Handeln bewahrt Dich vor Fehlern. Auf dem Gebiet der Loyalität musst Du die Kraft eines Tigers haben. Ein Meister des Budô sollte sich von Gewalt fernhalten, mit Menschen gut umgehen, ihre Leistungen anerkennen, in Frieden mit ihnen leben und zu ihrem Wohlbefinden beitragen.
Ein weiser Mann schrieb im Chudokansha:
„Kampfkunstanhängern ist es verboten, sich auf ungebärdige Weise zu verhalten. Soldaten sollten die Menschen schützen und ihnen helfen, in Frieden zu leben.“
Daher liegt in den Kampfkünsten der Weg der Wahrheit. Das Bujutsu der Hofinstruktoren und das Bujutsu der Benennungen ist nutzlos. Bereichere das Bujutsu der wahren Kampfkünste, und behalte bei Deinem Training diesen Brief im Sinn. Ein offenes Schreiben an Bruder Kuwae von Matsumura Sôkon, am 13. Mai 1882.
Matsumuras Kampfstil
Matsumuras Kampfstil war auf dem Shaolin-quan aufgebaut und und enthielt zusätzlich einige Prinzipien des japanischen Jigen-ryû (Schwertstil der Satsuma, s. dort), wodurch er sich von den Stilen aus Shuri und Tomari unterschied.
Matsumura-ryû war im Gegensatz zum Shuri-te sehr dynamisch und körperbetont. Matsumura übertrug seinen Stil sicher auf seinen besten Schüler und Freund AZATO ANKO, den späteren Lehrer von FUNAKOSHI GICHIN. Azato verfeinerte die Matsumura-Methode, indem er viele Ausweichbewegungen und schnelle Wechsel zwischen Angriff und Verteidigung einbaute. Damit besiegte er einmal den berühmten Schwertmeister des Jigen-ryû, KIRINO TOSHIAKI, indem er der Schwertklinge auswich und seinen Gegner mit zwei gezielten Fauststößen zu Boden schlug. Heute vermutet man die Wurzeln des modernen Shôtôkan-ryû in diesem Konzept, während sich das gesamte Shuri-te stärker an Itosus Kampfkunst, die von GUSUKUMA aus Tomari beeinflußt ist, orientiert. Matsumura prägte im besonderen die Kata Matsumura no Passai und Matsumura no Chintô, letztere eine Erbschaft des Bai-he-quan Meisters IWAH (HI HOUA). Als er im Alter von 104 Jahren (1896) starb, gab es im Shôrin-ryû schon eine ganze Reihe von hochentwickelten Kata, wie Chatanyara no Kûshankû, Sakugawa no Kûshankû, Matsumura no Passai, Matsumura no Chintô, Chanan und eine alte Passai-Variante, die später den Namen Ôyadomari no Passai erhielt. Matsumura war auch ein großartiger Kobudô-Experte und betonte in seinem Waffen-Stil besonders die Techniken der leeren Hand. Seine direkten
Schüler waren:
SAKIHARA PEICHIN, SAKUMA PEICHIN, KYAN CHÔTOKU, KYÛNA PEICHIN, YABU KENTSU, MOTOBU CHÔJU, ISHIMINE, KUWAYE RYÔSEI, HANASHIRO
CHÔMO, MATSUMURA NABE, ITOSU ANKO, CHINEN YAMANE, TAWADA PEICHIN, AZATO ANKO und ARAGAKI ANKICHI.
Matsumuras Erben
Einer der wichtigsten Shuri-te Meister nach Matsumura war ITOSU YASUTSUNE. Sein Karate hatte außer von MATSUMURA noch Einflüsse aus dem Tomari-te GUSUKUMAS. Unter ihm lernte CHIBANA CHÔSHIN und gründete nachfolgend das Kobayashi-ryû. Die Erbfolge des Kobayashi-ryû traten HIGA YUCHOKU, NAKAZATO SHUGORO und MIYAHIRA KATSUYA an. Ein anderer Schüler von Chibana Chôshin, KANESHIRO KENSEI, gründete ein eigenes Konzept, das er Tozan-ryû nannte. Orthodoxes Matsumura Shôrin-ryû wurde als Matsumura-Seito von SÔKEN HÔHAN (1889-1982, s. dort) überliefert, der unter MATSUMURA NABE, dem Enkel von Matsumura Sôkon, lernte. Der Stil ist eine Kombination aus Shaolin Quan-fa und Bai-he-quan. Heute wird er hauptsächlich von KISE FUJI (Fusei) (s. Shôrin-ryû Kenshikan) und KUDA YUICHI (s. Matsumura-Kempô) vertreten. Der ältere Bruder von SHIMABUKURO EIZO, Shimabukuro Tatsuo (1908-1975), gründete unter dem Einfluß von MIYAGI CHÔJUN, KYAN CHÔTOKU und ARAGAKI ANKICHI das Isshin-ryû. Das Sukunai Hayashi-ryû (auch Shobayashi-ryû, s. jeweils dort) wurde von KYAN CHÔTOKU geprägt, der ebenfalls von Matsumura beeinflusst wurde. NAKAZATO JOEN, ein Schüler Kyans, gründete das Shôrinji-ryû, aber weitere Einflüsse von Kyan Chôtoku auf die okinawanischen Kampfkünste sind auch in anderen Stilen sichtbar. Die Nachfolge von Kyans Lehre traten die SHIMABUKURO-Brüder an. Dem alten Matsumura-Stil am naheliegendsten war sicher Azatos Karate, der auf Okinawa als der „große Meister im Schatten“ galt und seine Kampfkunst nur auf FUNAKOSHI übertragen hat. Letzterer unterrichtete jedoch in Japan 20 Jahre lang die Kampfkunstauffassung Itosus. Erst sein Sohn Yoshitaka veränderte 1938 das Konzept des Altmeisters und führte Matsumuras Karate als Shôtôkan-ryû wieder in den Lehrplan seiner
Schule ein.
Quelle: Werner Lind, „Das Lexikon der Kampfkünste“